Content Testing: Der unterschätzte Hebel für Umsatz und Unternehmenskultur
Kennst du diesen Moment, wenn du eine App öffnest und denkst: „Puh, hat da mal jemand drübergeschaut?“
Ich hatte diesen Moment neulich bei der AOK. Da ploppte mir ein Button entgegen mit der Aufschrift: „AOK Mein Leben beenden“.
Klingt wie ein makabrer Lebensabschieds-Button, oder? Der Hintergrund war eigentlich harmlos: Die App hieß „AOK Mein Leben“. Und technisch gesehen wollte man sie halt „beenden“ oder schließen. Aber wenn man das ungetestet zusammenbaut, kommt eben so etwas dabei raus.
Ich habe das auf LinkedIn geteilt – und der Post ging mit 170.000 Impressions durch die Decke. Die AOK hat es glücklicherweise sportlich genommen („Der Button-Text ist gefixt!“), aber das Beispiel zeigt brutal deutlich, was passiert, wenn wir Texte isoliert betrachten.
Wir investieren massive Ressourcen in UX-Design, A/B-Testing von Button-Farben und Code-Performance. Aber beim eigentlichen Kern – dem Inhalt – verlassen wir den Pfad der Evidenz.
Texte entstehen oft in Silos, basierend auf internem Jargon oder Bauchgefühl. Und genau deshalb fristen sie oft ein Nischendasein, bis es dann viral geht – aus den falschen Gründen.
Das ist kein ästhetisches Problem. Es ist ein betriebswirtschaftliches Risiko.
Wer Content nicht testet, ignoriert den direktesten Weg zum Umsatz und verpasst die Chance, interne Machtkämpfe durch Daten zu ersetzen.
Wahrheit 1: Unklarer Content verbrennt Geld
Content ist kein Füllmaterial für schicke Interfaces. Content ist das Interface. In einer digitalen Welt, in der kein Verkäufer daneben steht, um Fragen zu beantworten, muss der Text die gesamte Überzeugungsarbeit leisten.
Ein Button wie „App schließen“ oder „Abmelden“ hätte bei der AOK niemanden irritiert. „Mein Leben beenden“ hingegen lässt Nutzer stolpern. Und Stolpersteine kosten Geld.
Content Testing ist daher keine redaktionelle Kosmetik, sondern harte Conversion-Optimierung. Wenn wir testen, lösen wir Probleme, die sich direkt in der Bilanz niederschlagen:
- Verständnis schafft Vertrauen: Nutzer kaufen nichts, was sie nicht verstehen. Unklare Produktbeschreibungen sind der Hauptgrund für Kaufabbrüche.
- Reduktion der Service-Kosten: Jede Unklarheit führt zu einem Support-Ticket. Guter Content fängt diese Kosten ab.
- Risikominimierung: Kampagnen mit ungeprüften Botschaften zu fahren, ist wie Glücksspiel.
Ganz ehrlich: Die schönste UX nützt nichts, wenn die Botschaft beim Nutzer nicht ankommt. Umsatz entsteht dort, wo Verständnis auf Motivation trifft.
Wahrheit 2: Content Testing verändert die Kultur
Vielleicht noch spannender als der monetäre Aspekt ist der kulturelle Effekt. In vielen Unternehmen ist „Wording“ ein politisches Minenfeld. Das Marketing will es „emotional“, Legal will es „sicher“, das Produktmanagement will es „präzise“.
Das Ergebnis sind oft Kompromisstexte, die niemanden verärgern, aber auch niemanden überzeugen. Das nennt man den „HiPPO-Effekt“ (Highest Paid Person's Opinion): Die Meinung der bestbezahlten Person im Raum gewinnt.
Content Testing demokratisiert Entscheidungen.
Es verlagert die Diskussion von „Ich finde das klingt besser“ zu „Die Daten zeigen, dass Variante B besser konvertiert“. Statt stundenlang in Meetings zu sitzen und zu raten, wie ein Wort ankommt, fragen wir einfach die, die es wissen müssen: die Nutzer.
Wer anfängt, Sprache zu testen, etabliert eine Kultur des Zuhörens statt des Sendens.
Die Praxis: Wie man das „Bauchgefühl“ messbar macht
Content Testing bedeutet, die Konversation mit dem Kunden zu simulieren. Es geht nicht um Rechtschreibung, sondern um Resonanz.
Die mit Abstand beliebteste Methode ist das Highlighting. Dabei markieren Testpersonen Textstellen farbig:
- 🟢 Grün: „Das hilft mir / Das überzeugt mich.“
- 🔴 Rot: „Das verstehe ich nicht / Das verunsichert mich.“
Kombiniert mit qualitativen Fragen („Warum hast du hier gezögert?“) entsteht ein gnadenlos ehrliches Bild. Wir sehen plötzlich, ob ein Text kognitive Leichtigkeit bietet oder ob er – wie im AOK-Beispiel – unfreiwillig komisch oder gar abschreckend wirkt.
Roadmap: Vom Raten zum Wissen
Du brauchst keine monatelange Studie. Starte lean:
1. Das Business-Problem identifizieren
Starte nicht mit „Ist der Text hübsch?“. Starte mit: „Warum brechen 40% der Nutzer hier ab?“
2. Hypothesen statt Meinungen
Formuliere scharfe Hypothesen. „Wenn wir ‚Mein Leben beenden‘ in ‚Abmelden‘ ändern, reduzieren wir die Irritation und die Support-Rückfragen.“
3. Qualitativ vor Quantitativ
Bevor du A/B-Tests aufsetzt, musst du verstehen, warum etwas nicht funktioniert. 5 qualitative Tests bringen oft mehr Insights als 1000 Besucher auf einer schlechten Variante.
4. Iterieren und Skalieren
Nutze die Erkenntnisse, um „Content Patterns“ abzuleiten. So entsteht ein Playbook für Texte, die wirklich funktionieren.
Fazit: Mut zur Wahrheit
Content Testing kann wehtun. Es zeigt uns, dass unsere internen Prioritäten den Kunden oft egal sind. Oder dass unser „Branding“ (wie der App-Name „Mein Leben“) in Kombination mit Systemtexten („beenden“) völlig nach hinten losgehen kann.
Aber genau dieser Schmerz ist notwendig.
Unternehmen, die Content Testing ernst nehmen, verschieben ihren Fokus von Output („Wir haben 10 Seiten getextet“) auf Outcome („Wir haben die Verständlichkeit um 50% gesteigert“). Sie sparen Budget, steigern den Umsatz – und sorgen vielleicht sogar für den ein oder anderen Lacher weniger auf LinkedIn, aber dafür für mehr zufriedene Nutzer.